Bei meiner Wanderung durch die Sahara bewundere ich die unwirklich, wie gemalt anmutenden Sanddünen, die sich wie kleine Berge dem Himmel entgegenstrecken und die ewigen Weiten der Steinwüste, aus denen hin und wieder aus Büschen, die wie längst vertrocknet aussehen, doch noch neues Leben austreibt. ‚An diesem magischen Ort kann eine magische Pflanze nicht weit sein’, denke ich. Bekannt ist mir keine. ‚Welch Pflanzengeist wohl über diesen beeindruckenden Ort der Kraft wacht?’ Vier Tage lasse ich mich treiben, begleitet vom wiegenden Rhythmus der Kamele, unseren Wüstenschiffen und fliegenden Teppichen. Ich bin eine Suchende, die nicht weiß, dass sie sucht. Als mich die Wüstenschiffe ans Draa-Ufer geleiten, finde ich. Am Rand der Unendlichkeit erwartet sie mich.
Hier im ausgetrockneten Flussbeet, in dem sich die geschundene Erde wie Tonschalen einrollt, von der sengenden Wüstenhitze zerbrochen, dort, wo man weit und breit kein Wasser vermuten kann, erhebt sie sich. Dort, wo nichts als Weite ist, nimmt sie Raum ein, beansprucht ihn für sich, gedeiht und sprießt besser als es in jedem Schaugarten möglich wäre. Als würde sie ein Zeichen setzen wollen, nur sichtbar für das wachsame Auge: ‚Achtung, hier ist die Grenze zwischen der Alltagsrealität und Wüstenwahrheit. Eintritt auf eigene Gefahr.’
Als erstes sehe ich ein kleines Exemplar. An ihren typischen Samenkapseln erkenne ich die Verwandtschaft zu meiner Freundin, dem schwarzen Bilsenkraut. Aber damit nicht genug, es sind viele, so viele, es scheint, als wäre die Draa zu neuem Leben erwacht. Überall saftige, grüne, fleischige Blätter in allen Größen, von der zarten, bodenbedeckenden Blattrosette eines frisch geborenen Pflänzchens bis zu stolzen Prachtexemplaren von einem Meter Höhe. So trocken wie das Flussbeet, so saftig die Pflanze, als hätte sie den gesamten Fluss ganz alleine leer getrunken.
Und da nicken mir auch schon die ersten dunkelvioletten Blüten zu. Von Pflanze zu Pflanze gehe ich, bewundernd wie ein liebestrunkener Verehrer, Foto um Foto versuche ich ihre Magie einzufangen. Aber ganz im Gegenteil, ich bin es, die vom Zauber der Pflanze gefasst wird.
In der Signaturenlehre sagt man, dass das Bilsenkraut eine merkurielle Pflanze ist, erkennbar u.a. am rhythmischen Aufbau der Blüten. Jawohl, ich erkenne Merkur, den Vermittler der Welten! Denn schon bin ich nicht mehr hier, sondern wandle in der Welt meiner Freundin, dem Bilsenkraut. Mit ihren spiralförmigen Windungen lehrt sie mich Flexibilität und Geschmeidigkeit von Körper und Geist.
Animalisch mutet sie an mit ihren Windungen, Blättern wie Schuppen, Stengel wie Hälsen und Blüten wie Köpfen. Wie eine chtonische Urdrachin thront sie vor mir bis sie selbst zur Drachin wird. Doch sie war es die ganze Zeit über schon. Und sie nimmt mich mit in die Unterwelt, in den Ur-Schoß, wo alles beginnt und alles endet. Dem Ort, der zwischen den Orten liegt. Die Zeit steht still, so still wie die Luft, ich bin alleine mit der Pflanze. Nach ewiger anwährender Zwiesprache ist es Zeit für den Abschied. Schwer fällt er dennoch nicht, denn das Naturgesetz besagt, dass das Alte enden muss damit das Neue beginnen kann. Aber am Ende ist auch das eine Illusion, denn die Spirale dreht sich weiter und weiter ins Unendliche, so wie die Weisheit der „Spiralblume“ ewig währt.
Als ich mich auf den Weg zurück mache, kreuzen drei Motorräder meinen Weg. Irreal erscheinen sie mir, weit phantastischer als die Welt des Bilsenkrauts. Ein Watzlawick-Zitat geht mir durch den Kopf: „Wie wirklich ist die Wirklichkeit?“
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